"Wer garantiert, dass ein angeblich ich- und beobachterfreies Seinsgefühl nicht nur eine Scheinveranstaltung eines sich als total disidentifiziertes Bewusstsein maskierenden Ichanteils ist, der alle anderen Ich-Anteile kontrolliert und manipuliert? In der Folge fortschreitender Disidentifikation wird das Ich von Inhalten, mit denen es sich identisch wähnte, entschlackt, was dazu führen kann, dass die Person durchlässiger wird für das im Körper strömende Leben, das sich nun nicht mehr unter dem verkrusteten Ich staut. Identifikationen sind wie Blätter eines Baumes, die kommen und gehen. Ein Mensch, der sich wünscht, von allem dauerhaft disidentifiziert sein zu wollen, kommt mir wie ein Baum vor, der keine Blätter mehr haben will."

(WHATEVER WORKS) ...WORKS WELL !

Von faschistoiden Beobachtern und anderen Kleinigkeiten

 

Wenige Tage nach meinem der Psychosynthese gewidmeten Text "WHATEVER WORKS" erschien der Gastbeitrag "KONTROLLE DER ICH-ILLUSION ALS URPSYCHOSE" des Autors Tom de Toys, der in seinem Aufsatz auslotet, wie die Menschheit durch Überwindung des personenzentrierten Ichsystems in einem "tiefenorganischen, sinnlichen Seinsgefühl" bzw. einem "enttraumatisierten Körpergefühl" ankommen könnte, "das kein Ich und kein Denken (welches das illusionäre Ich überhaupt erst erzeugt) benötigt, um stark und stabil zu sein". Im Endergebnis dieses Prozesses könnte, so De Toys, eine offenere, friedlichere, empathischere, weniger egoistische bzw. egofreie, insgesamt psychisch deutlich gesündere Menschheit hervor gebracht werden. Zunächst einmal möchte ich diese Gedankengänge als das würdigen, was sie sind, nämlich sehr anregend und richtungsweisend.

Jetzt kommt das "Aber"

Die Art und Weise, wie in "KONTROLLE DER ICH-ILLUSION ALS URPSYCHOSE" allerdings gegen die Psychosynthese polemisiert wird, mit der ich mich seit 2002 beschäftige und die ich seit 2015 in meiner Praxis als therapeutisches Mittel einsetze, veranlasst mich, nun MEINE Sicht auf die Möglichkeiten der Psychosynthese darzulegen. De Toys behauptet in seinem Beitrag, dass:

1. die Psychosynthese eine Unterscheidung in gesunde und kranke Ichanteile vornimmt;

2. der in der Psychosynthese eingesetzte Beobachter ausschließlich dazu führen kann, daß ein Persönlichkeitsanteil, der sich als angeblicher Beobachter maskiert, quasi ein intrapsychisches Regime errichtet, das die restliche Persönlichkeit kontrolliert und manipuliert;

3. die Psychosynthese dem Menschen das Durchschauen seines illusionären Ichs verwehrt und ihn somit an tieferen Einsichten wie dem Erreichen eines ichentlausten, denkfreien Seinsgefühls sowie eines enttraumatisierten Körpergefühls hindert;

4. die Psychosynthese die illusionäre Ich-Mitte religiös aufbläht.

Nachfolgend werde ich auf die obigen Punkte einzeln eingehen.

zu 1:

Die Psychosynthese unterscheidet NICHT zwischen gesunden und kranken Ichanteilen. Das zu behaupten, ist absurd. Ganz im Gegenteil ist eines der Axiome der Psychosynthese das Erkennen, AKZEPTIEREN und Integrieren von allem psychischen Geschehen hin zu einem funktionierenden Ganzen. Gerade jene Anteile, die bisher auf Grund von anerzogenen Glaubenssätzen ("man tut..."), Vorstellungen ("nur wenn es so oder so ist, dann...") etc. AUSGEGRENZT ("das gehört nicht zu mir...") wurden, werden von der Psychosynthese endlich abgeholt und in gewisser Weise erlöst, was sich in vielen Fällen klar und deutlich daran erkennen lässt, dass Menschen, die mit Psychosynthese in Berührung gekommen sind, sich häufig deutlich lebendiger, kreativer und insgesamt freier fühlen.
 
zu 2:

Hier stelle ich zunächst eine GEGENFRAGE, die lautet: WER garantiert denn, dass ein angeblich ich- und beobachterfreies Seinsgefühl, wie dies vom Herrn De Toys favorisiert wird, nicht ebenfalls nur eine Scheinveranstaltung eines sich als Seinsgefühl bzw. angeblich TOTAL disidentifiziertes Bewusstsein maskierenden Ichanteils ist, der alle anderen Ich-Anteile auch nur in seinem Sinne kontrolliert und manipuliert? Letzten Endes kann dieser Beweis ÜBERHAUPT nicht erbracht werden, sondern einzig und allein bloße Empirie kann Antwort darauf geben, was wirkt und was nicht, d.h. was tun, wie verhalten sich Menschen und wie gestalten sie ihr Leben und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn sie mit Psychosynthese, Nullyoga, einem ichfreien Seinsgefühl etc. pp. in Berührung kommen? Oder sollte es noch einen anderen Maßstab geben, der wichtiger sein könnte als dieser Aspekt? Mir fällt KEINER ein. Jedes noch so großartige Gedankengebilde muss in der freien Wildbahn beweisen, wie und ob es wirkt! Meine Erfahrung mit der Psychosynthese ist, dass diese zu einer deutlichen Verflüssigung und Verbesserung der Selbstregulation und Lebensführung führen kann (siehe dazu auch zu 1.). Aus in teils quälenden Mustern festgeklemmten, vorstellungsgläubigen "Surrogates" werden fühlende und spürende Menschen, die dem nachgehen, was wirklich stimmt und auf der Seite von Entwicklung (versus Stillstand, Frustration, Depression, Aushalten) ist. Dies lässt sich z.B. daran ablesen, dass mitunter Jobs, in denen man sich jahrelang abgemüht hat, gekündigt werden, dass Beziehungsmuster, die schon lange nicht mehr stimmen oder nie gestimmt haben, in Frage gestellt oder auch abgebrochen werden, dass es zu längst überfälligen Aussprachen und/oder Auseinandersetzungen mit Bezugspersonen kommt, dass sich körperliche Symptome (Kopfschmerzen, Magenbeschwerden etc.) zurückentwickeln, die Lebensführung insgesamt deutlich mehr abgestimmt ist auf die eigenen Ressourcen (Nachhaltigkeit statt Selbstausbeutung) u.s.w.

Eines der Werkzeuge, mit denen die Psychosynthese arbeitet, ist der innere Beobachter. Der Beobachter ist ein Versuch, eine Position einzunehmen, die es dem Klienten ermöglicht, aus einer anderen Perspektive als der üblichen auf sein Inneres zu schauen und sich so möglicherweise über die eigenen Verhaltensmuster, Identifikationen (David Foster Wallace spricht von Standardüberzeugungen), Glaubenssätze etc. klarer zu werden, was in vielen Fällen sehr gut funktioniert und, wie oben schon gesagt, zu sichtbar positiven Schritten in der Lebensgestaltung, der Selbstregulation, des Umganges mit sich selbst und seinen Mitmenschen beitragen kann. Selbstverständlich gibt es auch hier wie wohl überall Risiken und Nebenwirkungen, die auftreten können, wie z.B. jene, dass sich das sogenannte Über-Ich (innerer Kritiker, Ansprüche, Gewissensstimmen, Antreiber, Eltern-Introjekte etc.) zumindest teilweise des Beobachters bemächtigt und so keine wirklich neue Perspektive eingenommen wird, sondern sich die alte Nomenklatura nur neu maskiert. Sollte dies tatsächlich passieren, lässt sich das allerdings sehr einfach feststellen, nämlich eben daran, dass der Mensch in seinen Mustern gefangen bleibt. Wie ALLES im Leben ist auch dies kein Selbstläufer, sondern bedarf der Übung und einfühlsamer Überprüfung, was eine der Aufgaben eines Psychosynthese-Therapeuten ist.

Die Version der Psychosynthese, die ich bei Harald Reinhardt in Köln (Institut für Psychosynthese und transpersonale Psychologie) erfahren und lernen durfte, bezieht SÄMTLICHE Kanäle psychischen Geschehens in den therapeutischen Prozess mit ein: Körper, Gefühle, Träume, innere Bilder (Symbolsprache), kreativer Ausdruck (Malen, Tanzen etc.), Widerstand ("das Bedürfnis im Widerstand"), Freude u.v.m. Insbesondere ohne den Körper geht in dieser Arbeit GAR NICHTS. Der Körper mit seinen unverfälschten Signalen ist das Maß der Dinge in Psychosynthese-Prozessen, mit dem sich sehr effektiv überprüfen lässt, ob gerade etwas Wesentliches stattfindet oder eher Mindfucking. Auch Träume und das, was sie dem Träumenden sagen wollen, spielen eine erhebliche Rolle ("Träume als Medizin"). Diese sehr wichtigen Werkzeuge bilden in Kombination mit dem Beobachter- und Teilpersönlichkeiten-Konzept der Psychosynthese eine nachweislich zu nachhaltigen Entwicklungen führende Methodik.

Auch für mich selbst war die Begegnung (ab 2002 bis heute) mit der Psychosynthese, so wie sie in Köln gelehrt wird, eine äußerst intensive Erfahrung, für die ich bis heute sehr dankbar bin. Ich fühle mich überhaupt nicht wie ein Surrogate sondern lebendig, kreativ, voller Lust am Tun und Freude und Dankbarkeit, leben und gestalten zu dürfen.

zu 3:

Ein sehr zentrales Element, mit dem die Psychosynthese arbeitet, ist die Disidentifikation, d.h. das bewusste Heraustreten aus Inhalten (Vorstellungen, Glaubenssätze, Gewohnheiten, Ideale, Ansprüche u.s.w.), mit denen die jeweilige Person stark identifiziert ist, was mitunter zu Fehlanpassungen, Selbstüberforderung, Einseitigkeiten jeder Art führen kann. Wenn Menschen sich in Therapie begeben, ist dies nicht selten eine Folge davon, dass sie so stark mit A identifiziert sind, dass Sie B, C und D nicht akzeptieren bzw. überhaupt nicht sehen können und so geraten sie durch ihre Einseitigkeit irgendwann so stark in Schieflage, dass sie dort ohne fremde Hilfe nicht mehr herauskommen können. Die Psychosynthese hilft dabei, sich nach und nach bewusster über die eigenen inneren Verschaltungen zu werden und die Konsequenzen, die das haben kann. Eine besonders signifikante Konsequenz kann sein, dass bestimmte Vorstellungen ("Ich kann das nicht", "Ich bin nichts wert" oder auch "Ich MUSS das schaffen", "Ich muss IMMER stark sein") Menschen u.U. vollständig daran hindern können, sich zu entwickeln (Stagnation) bzw. ein ihrer Natur, seelischen Konstitution gemäßes Leben zu führen. In der Folge fortschreitender Disidentifikation wird das Ich sozusagen zunehmend von Inhalten, mit denen es sich bisher identisch wähnte, entschlackt, was auf Dauer dazu führen kann, dass die betroffene Person zunehmend durchlässiger wird für seelische Inhalte bzw. das im Körper strömende Leben, das nun endlich am bisher verkrusteten Ich vorbei kommt und sich nicht mehr darunter staut. So wird die Person gewissermaßen immer mehr zum Transportmittel ihrer Seele anstatt zu deren Verhinderer, der sich hinter seinen Identifikationen verbarrikadiert.

Ich kann nicht erkennen, inwiefern dies Menschen an der Begegnung mit tieferen Einsichten hindern soll. Im Gegenteil bahnt dies tieferen Einsichten den Weg, denn je durchlässiger Menschen z.B. auch durch die Disidentifikationsprozesse der Psychosynthese werden, desto mehr kommen sie in die Nähe eines sogenannten Seinsgefühls jenseits von begrenzenden Identifikationen, deren illusionären Charakter sie nach und nach zu durchschauen lernen. Ob sie ab einem bestimmten Punkt dieser Entwicklung dann auch die "Gehhilfe/n" Psychosynthese, Beobachter etc. wegschmeißen und sich weiter auf einen vollständig disidentifizierten Bewußtseinszustand bzw. ein vollständig ichentleertes Seinsgefühl zubewegen wollen bzw. dies vermögen, wird sich zeigen. Alles kann, nichts muss.

zu 4:

Der in der Psychosynthese verwendete Begriff "Höheres Selbst" ist tatsächlich dazu geeignet, religiös überhöht zu werden. Durch die Beschäftigung mit Nullyoga ist mir dies klar geworden. Seitdem benutze ich den Begriff "Höheres Selbst" nicht mehr, weil auch ich nicht will, dass meine Klienten diesen Terminus als etwas Numinos-Fremdes fehlinterpretieren und als etwas Göttliches anzubeten beginnen. Vielmehr geht es mir darum, aufzuzeigen, dass dies tiefere Schichten der eigenen Psyche des Klienten sind, die bei ihm "da oben" anklopfen und sich in ihrer ganz eigenen Sprache (Bilder, Körpersymptome etc.) mitteilen, die den Klienten vielleicht zuerst irritieren oder verängstigen mag (z.B. Alpträume), die man aber mit etwas Geduld erlernen kann.

Hauptsache TOTAL?

Abschließend noch ein kurzes Wort zum Begriff TOTAL. Ich glaube nicht, dass wir Menschen für diesen Begriff gemacht sind. Der Wunsch, TOTAL disidentifiziert sein zu wollen, erscheint mir seinerseits schon Ausdruck einer besonders STARKEN Identifikation, vielleicht auch einer großen Not, der man VOLLSTÄNDIG und UNUMKEHRBAR entkommen will. Eine sogenannte TOTALE Disidentifikation steht übrigens auch NICHT auf der Psychosynthese-Agenda. Hier gilt "ausreichend gut" hat Vorfahrt vor "TOTAL". Identifikationen sind wie Blätter eines Baumes, die kommen und gehen. Ein Mensch, der sich wünscht, von ALLEM dauerhaft disidentifiziert sein zu wollen, kommt mir eher wie ein Baum vor, der keine Blätter mehr haben will. Was für ein trauriges Bild. Kein TOTaler, sondern wohl eher ein TOTer Baum. Glaubt man den Worten U.G. Krishnamurtis, scheint es ohnehin überhaupt nicht möglich zu sein, so einen Zustand im Zuge eines kausalen Vorgangs zu erreichen. Dieser ereignet sich oder eben nicht.
 
 
AUTOR: Marcus Freund Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychosynthese-Therapeut und -Coach (Ausbildung am Institut für Psychosynthese und transpersonale Psychologie, Harald Reinhardt, Köln) www.marcusfreund.de
Erstveröffentlichung am 1.11.2017 für die LDL - geringfügiges Lektorat und Hervorhebungen durch Paul Zellin.

Da dieser Artikel vorallem eine Replik auf den Gastautor Tom de Toys darstellt, finden sich innerhalb des Textes Verlinkungen zu den angesprochenen Positionen von De Toys, um dem Leser den Vergleich zwischen beiden Autoren zu erleichtern. Zusätzlich gibt es einen Link zu unserem eigenen aktuellen Artikel "ERROR", der ebenfalls davon handelt, inwiefern das Loslassen von VORSTELLUNGEN zur "vollständigen Disidentifikation" (Ichfreiheit) führt...