"So etwas wie 'nichts anbeten' gibt es nicht. Jeder betet etwas an. Wir haben lediglich die Wahl, was wir anbeten."
David Foster Wallace, DAS HIER IST WASSER (2005)

 

WHATEVER WORKS

Gedanken zur Kompatibilität von Nullyoga und Psychosynthese

 

Ich habe den (zumindest ersten) Eindruck, dass Nullyoga am besten für Menschen geeignet ist, die genügend innere Festigkeit besitzen (bzw. erlangt haben), um mit dem Gedanken zu spielen, dass die Welt, in der sie im Hier und Jetzt leben, möglicherweise die einzige ist, die es gibt, und keine weiteren "höheren", "vollendeteren" Ebenen (Paradies, Himmel, Nirwana und was auch immer sonst) dahinter. Für Traumatisierte und andere psychisch belastete Persönlichkeiten mag die Hoffnung auf eine Metaebene absoluter Stille oder Paradies, Erleuchtung, Samadi, Gott, Höheres Selbst, Engel, Elfen etc. möglicherweise wie eine Planke sein, an der sie sich wie ein Schiffbrüchiger mit aller Kraft und voller Hoffnung auf Errettung festklammern. Bleibt einfühlsam zu klären, ob dieser Schiffbrüchige tatsächlich nicht auch ohne Planke zurechtkommt bzw. um welche Sorte "Planke" es sich handelt, also z.B. eine Sekte, einen narzißtischen Guru, der seine Schäfchen in Abhängigkeit zu sich hält etc. Ich halte überhaupt nichts davon, jemandem die Planke einfach wegzureißen (anderes Bild: jemandem seine Gehhilfe einfach wegzutreten mit der Bemerkung: "Die brauchst Du nicht!"). Nullyoga sollte dort zum Einsatz kommen, wo Menschen von selbst anfangen bzw. angefangen haben, an ihrer "Planke" oder "Gehhilfe" zu zweifeln.

Beeinflusst von der Lektüre des "Nullyoga"-Buches habe ich mir einige Zeit regelrecht den Kopf zermartert, ob das, was ich als Psychosynthese-Therapeut meinen Klienten anbiete, vielleicht auch irgendeine narzißtische Guru-Veranstaltung ist, ob z.B. das "fortschreitende Erwachen", von dem in der Psychosynthese die Rede ist, der Beobachter, die Disidentifikation, Teilpersönlichkeiten etc. (alles Psychosynthese-Terminologie) meine Klienten in die falsche Richtung führen könnten. Aber irgendwann wurde mir deutlich, dass es nicht darum geht, ab sofort auf jegliche "Planke" oder "Gehhilfe" zu verzichten, sondern dass viel wichtiger ist, zu schauen welche Qualität die "Gehhilfe" hat. Führt oder hält sie die Person, die sie benutzt, in Abhängigkeit von z.B. einem Guru, einer Ideologie etc. oder fördert sie Entwicklungsprozesse in Richtung Stärkung persönlicher Autonomie, Selbstwahrnehmung, Bewusstheit, Selbstausdruck, Selbstwirksamkeit u.s.w.? D.h. es kann erst einmal völlig ausreichen, eine schlechte Gehhilfe gegen eine bessere einzutauschen und dann kann immer noch im Laufe der weiteren Entwicklung geschaut werden, ob/wann man sich sämtlicher Vehikel entledigen kann, die evtl. wertvolle Zwischenschritte in der persönlichen Entwicklung ermöglicht haben. Im Sinne von "Ich brauche keine Stützräder mehr, der Guru kann jetzt gehen."


Der Beitrag, den die Psychosynthese leisten kann, ist z.B.


- eine bessere Vernetzung mit dem eigenen Inneren;

- ein verfeinertes Verstehen (Erkenntnisprozesse) der Ausdrucksformen der Psyche = leiblich-energetische Phänomene (Körperwahrnehmung, Körpermarker), Intuition, Symbolsprache innerer Bilder (Imagination), Träume (Trauminhalte als kompensatorische Medizin gegen Einseitigkeit);

- bewussterer Umgang (Selbstkontakt/nicht identifizierter Beobachter) mit sich selbst und allem, was sich im Inneren "meldet" ("etwas in mir hat…", "etwas in mir ist…");


- verflüssigter Selbstausdruck;

- entspannteres Pendeln zwischen inneren Gegensätzen (erhöhte Toleranz für die eigenen Widersprüchlichkeiten).

Dies alles dient dem Zweck einer besseren Orientierungsfähigkeit des Klienten an sich selbst, im eigenen Leben und schlussendlich in der Welt. Darum, Menschen im esoterischen Sinne auf irgendeine Metaebene grenzenloser Stille aus der Welt wegzuführen oder ein sogenanntes "Ego" restlos zu zertrümmern, geht es in der Psychosynthese überhaupt nicht. Ferner wird nichts "weggemacht" (im Sinne von "schlechter" Energie, die exorziert werden muss), sondern immer neugierig und ressourcenorientiert nach dem Bedürfnis (und der Kompetenz) im Schwierigen geschaut und ausgelotet, wo es seinen Platz hat (Integration + Synthese). Die einzige Form der "Erleuchtung", die die Psychosynthese im Sinn hat, ist, dass der Klient sich bewusst wird, wie sein Inneres "verschaltet" ist, welche Ansprüche, Glaubenssätze, Vorstellungen, Gewissensstimmen etc. in ihm walten (wie ist sein inneres Parlament besetzt?) und welche Konsequenzen das für ihn und sein Leben hat. Der einzige "spirituelle" Fortschritt, der die Psychosynthese interessiert, ist, dass der Klient sich mit jenen Kräften in seinem Innern besser vernetzt, die auf der Seite seines Identisch-mit-sich-selbst-Seins stehen anstelle von "Man tut", "Man muss" u.ä. lähmenden und quälenden Gewissensstimmen. Gelingt dies ausreichend gut, dann kann vielleicht das wahr werden, was Pier Zellin am Anfang von "Nullyoga" sagt: "Wir tun nur das, was wir sowieso tun, und genießen jeden Schritt als den wahren Schritt durchs Leben." Fast möchte ich diesen Satz abwandeln in "Wir tun das, von dem wir spüren, dass es von uns getan werden will und genießen, dass wir an diesem Punkt angelangt sind."

 


AUTOR: Marcus Freund – Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychosynthese-Therapeut und -Coach (Ausbildung am Institut für Psychosynthese und transpersonale Psychologie, Harald Reinhardt, Köln)

HOMEPAGE: www.marcusfreund.de
QUELLE: Erstveröffentlichung für die LDL